Auswirkungen auf betroffene Kinder
Allgemeingültige Aussagen zu den Auswirkungen einer psychischen Erkrankung eines Elternteils auf sein Kind können nicht getroffen werden. Diese hängen von verschiedensten Faktoren ab immer individuell betrachtet werden. Für die Auswirkungen einer psychischen Erkrankung von Eltern auf ein Kind spielen mehrere Punkte eine wichtige Rolle:
- die konkrete Erkrankung des Elternteils und deren Ursachen (z.B. ob diese erbliche Komponenten hat oder eher nicht),
- die konkreten Belastungen eines Kindes und die Schlüsselfaktoren, die diese bestimmen, sowie
- die konkreten Symptome des erkrankten Elternteils, während das Kind mit ihm Kontakt hat, und
- die Rolle des Kindes in seinem Familiensystem
Kinder mit psychisch erkrankten Eltern gelten oft als Hochrisikogruppe für die Entwicklung einer eigenen psychischen Erkrankung. Dabei spielen unterschiedliche Aspekte eine Rolle.
1. Entwicklung der gleichen Erkrankung des Elternteils durch geerbte Disposition, die durch extreme Stressbelastung ausgelöst wird
Für bestimmte psychiatrische Erkrankungen wie Schizophrenie, bipolarer Störung (manisch-depressive Erkrankungen), schizo-affektiven Störungen und bestimmten Arten von Depressionen scheint es nach derzeitigem Forschungsstand eine gewisse genetische Veranlagung zu geben. Für ererbte Faktoren spricht, dass die Konkordanzraten (Übereinstimmungsraten) bei eineiigen Zwillingen, die von diesen Erkrankungen beide betroffen sind, deutlich höher sind als die von zweieiigen Zwillingen oder bei anderen Geschwistern. Nirgends liegt die Konkordanzrate allerdings bei 100 Prozent, so dass keine dieser Erkrankungen rein genetisch bedingt zu sein scheint, sondern weitere Faktoren wie extrem belastende Lebensereignisse zumindest für den Ausbruch der Erkrankung hinzu kommen müssen.
Da genaue Genorte, über die diese Veranlagung vererbt wird, allerdings weiterhin unbekannt sind (für Schizophrenie glaubte man in den letzten Jahren zuerst man hätte einen gefunden, doch dann wurde das wieder verworfen) ist es derzeit nicht möglich, bei einem Kind zu testen, ob es diese Veranlagung für die gleiche Erkrankung geerbt hat oder nicht. So kann nur von einem durchschnittlich allgemein und nicht individuell erhöhtem Risiko ausgegangen werden, wenn ein oder sogar beide Elternteile an diesen genetisch beeinflussten psychiatrischen Erkrankungen leiden. Wenn belastende Lebensereignisse den Ausbruch dieser Erkrankungen begünstigen (weil durch sie eventuell Gene „aktiviert“ werden?), sollten Kindern von Eltern mit diesen psychiatrischen Erkrankungen besonders vor extremen Stresssituationen geschützt werden, um einem möglichen Ausbruch der gleichen Erkrankung ihrer Eltern vorzubeugen. Bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung sollte dieses Wissen aus der Psychiatrie berücksichtigt werden. Denn die genannten schweren Erkrankungen verursachen für von ihr betroffene Menschen oftmals erhebliches Leid. Davor gilt es die nächste Generation möglichst zu bewahren.
Auf diesen Aspekt und weitere mögliche Auswirkungen durch psychisch erkrankte Eltern weisen auch Mattejat/Remschmidt hin. In ihrem Artikel erhalten Sie ergänzend einen guten Überblick. Mattejat/Remschmidt 2008 in der Ärztezeitung.
2. Entwicklung psychischer Auffälligkeiten bzw. Erkrankungen durch unzureichende Erfüllung der Grundbedürfnisse und emotionalen Bedürfnisse des Kindes
Doch zum Glück entwickeln selbst nicht alle Kinder, deren Eltern die genannten psychiatrischen Erkrankungen haben, die Erkrankung ihrer Eltern. Die Mehrzahl entwickelt sie nicht. Das bedeutet aber leider im Umkehrschluss allerdings nicht, dass sich diese Kinder gesund entwickeln. Das hängt vor allem davon ab, wie die Bedürfnisse des Kindes trotz einer psychischen Erkrankung seines Elternteils erfüllt wurden. Das variiert im Einzelfall enorm und wird von bestimmten Schlüsselfaktoren erheblich beeinflusst. Je mehr Schlüsselfaktoren ungünstig sind (einige Schlüsselfaktoren können sogar ein Schutzfaktor sein), desto höher sind die Belastungen des Kindes und je schlechter ist seine Prognose für eine eigene, gesunde Entwicklung. Sind wichtige Faktoren nicht so belastend und verfügt das Kind zusätzlich über entscheidende Schutzfaktoren, wie andere Erwachsene, die einen teilweise oder vollständig zeitweise oder dauerhaft emotional und in der praktischen Versorgung ausfallenden Elternteil ergänzen und die Bedürfnisse des Kindes ausreichend erfüllen, kann es sich selbstverständlich auch mit einem psychisch erkrankten Elternteil völlig gesund entwickeln.
3. Bindungsstörungen
Kinder, die traumatische Erfahrungen im Kontakt mit ihren engsten Bezugspersonen gemacht haben, weil die körperlich/psychisch missbraucht oder extrem vernachlässigt wurden, drohen Bindungsstörungen zu entwickeln. Erst ab dem 16. Lebensjahr kann statt einer Bindungsstörung eine Persönlichkeitsstörung diagnostiziert werden. Zu denken ist auch an eine komplexe Posttraumatische Belastungsstörung. Um besser zu verstehen, wie Bindungsmuster entstehen, ist die Bindungstheorie sehr hilfreich.
4. Rollenspezifische Auswirkungen auf Kinder bei gravierender emotionaler Vernachlässigung
Eine längerfristige (nicht kurzfristige, die kommt überall einmal vor!) emotionale Vernachlässigung von Kindern und unzureichende Führung der Familie durch Erwachsene hat Folgen für eine gesunde (emotionale) Entwicklung für Kinder. Die Gründe, warum Eltern ihre Elternrolle nicht ausfüllen (können), sind unterschiedlich. Chronische psychische oder somatische Erkrankungen, Suchterkrankungen oder schwere Schicksalsschläge in der Familie sind mögliche Ursachen. Sie und ihre Auswirkungen (z.B. Arbeitsplatzverlust) können dazu führen, dass Eltern sehr mit sich und ihren Bedürfnissen beschäftigt sind und es keine ausreichende Führung der Familie durch Erwachsene gibt. Das hat Folgen für Kinder.
Wie ein Kind auf eine solche Belastung reagiert, hängt entscheidend von seiner Rolle ab, die es in seiner Familie einnimmt.
Diese Rolle wiederum wird von folgenden Faktoren beeinflusst:
- Einzelkind bzw. Geschwisterposition des Kindes
- Temperament des Kindes
- Geschlecht des Kindes
Gibt es keinen Erwachsenen im Familiensystem, der die Führung ausreichend übernimmt, und erhöhen sich die Belastungen des Kindes oder der Familie ingesamt, prägt sich nun die Rolle des Kindes in seiner Familie extrem aus. Diese extreme Ausprägung ist immer schädlich für das Kind. Die Rollen zu kennen und sie bei der Unterstützung der Kinder zu berücksichtigen, halte ich für sehr wichtig. Daher sind sie Teil meines Fortbildungsangebots für Fachkräfte.
Mögliche Rollen des Kindes, an die spezifische Auswirkungen gekoppelt sind:
- Held/Heldin (oft das älteste im Familiensystem verbleibende Kind oder ein Einzelkind, diese Rolle muss besetzt sein, wenn Eltern emotional ausfallen)
Dieses Kind ist als einziges Kind einer Doppelbelastung ausgesetzt. Es wird nicht nur selbst mit seinen Bedürfnissen vernachlässigt (wie seine Geschwister), sondern versucht den (teilweisen) Ausfall der Erwachsenen zu kompensieren, indem es die anderen Familienmitglieder einschließlich den Erkrankten – emotional und manchmal auch praktisch versorgt. Das ist ein Unterfangen, das bei psychischen Erkrankungen oder Suchterkrankungen zum Scheitern verurteilt ist, so dass das Kind – anders als in „normal gestörten“ Familiensystemen keine Selbstwirksamkeit erfährt und Selbstbewusstsein entwickeln kann. Ein Kind mit dieser Rolle in extremer Ausprägung hat extrem hohe Stresswerte (viel Angst, die man auf den ersten Blick oft nicht erkennt) und wird auf Dauer entsprechende stressbedingte Störungen insbesondere psychosomatische Beschwerden, stressbedingte Erkrankungen entwickeln oder auch durch Angst ausgelöste Störungen wie Traumafolgestörungen, wenn es z.B. vergeblich versucht hat, sein Elternteil und seine Geschwister aus sehr bedrohlichen Situationen zu retten. Das Problem selbst bei extrem ausgeprägter Rolleneinnahme ist, dass dieses Kind für andere angenehm leidet und sogar durch seine Versorgung des Erkrankten die Gemeinschaft entlastet. Für dieses Kind ist es am schwersten, sich von aus dem System zu lösen, da es sich sehr verantwortlich fühlt und leider manchmal immer noch von Angehörigen oder dem Erkrankten in seiner Verantwortung bestärkt wird. - Schwarzes Schaf (öfter Jungen, extrovertiertes Temperament)
Aus seine Belastungen/Vernachlässigung reagiert ein Kind mit dieser Rolle mit delinquentem Verhalten, das oft noch auffälliger ist als das des ausfallenden/erkrankten Elternteils. In seiner Wut zerstört es Gegenstände oder wird handgreiflich. Es kann zu Alkohol- oder anderen Drogenkonsum und Straffälligkeit kommen. Da dieses Kind mit für seine Mitmenschen unangenehmen Reaktionen auf seine Belastungen/Vernachlässigung reagiert, ist der Handlungsdruck in der Familie und von außen sehr hoch. Bei dieser Rolle ist es oft hilfreich zu erkennen, dass das diese Rolle in sehr abgeschwächter Form viele Stärken in sich hat. Dahingehend gilt es dieses Kind auch bei seiner Unterstützung zu begleiten, damit es – wie auch die anderen – wieder an die Stärken seiner Rolle kommen kann: Es sind mutige Kinder/Menschen mit viel Energie, die sich leichter aus ihren Familien lösen und ihren Weg gehen können. Dabei können sie sich gut von Problemen anderer abgrenzen, Risiken leichter ertragen und Aushalten sowie Ungewissheit aushalten. - Stille Kind (introvertiertes Kind, das sich in seine Welt zurückzieht)
Dieses Kind wird kaum im Familiensystem und von Außenstehenden wahrgenommen und einbezogen. Es zieht sich zunehmend in seine (Fantasie-)Welt zurück, sitzt nur noch vor dem Computer und zockt (eher Jungen) und liest extrem viel (eher Mädchen in dieser Rolle). Bei diesen Tätigkeiten erlebt es eine gewisse Selbstwirksamkeit, aber nicht im Kontakt mit anderen. Dieses Kind droht, sich und seine Gefühle gar nicht mehr wahrzunehmen, extreme Probleme in sozialen Kontakten und/oder Depressionen zu entwickeln. - Clown/Maskottchen (oft das jüngste Kind)
Dieses Kind ist oft ein Nachzügler. Bei hohen Belastungen wird dieses Kind oft versucht zu schonen und es rauszuhalten. Oft besteht bei diesem Kind besonders die Vorstellung, dass es nichts von den Belastungen mitbekommen würde. Das Kind nimmt die emotionale Stimmung in der Familie und die Verhaltensweisen des erkrankten Elternteils aber wahr, kann sie nicht einordnen, versucht mit seinem Charme und Witz mit allen in Kontakt zu kommen, wird jedoch innerlich und äußerlich unruhig. Kinder dieser Rolle haben bei hohen Belastungen eher Konzentrationsprobleme und gibt sich witzig, nimmt nichts mehr ernst und wird von anderen oft auch nicht mehr ernst genommen. Dieses Kind kann zwar gut mit anderen in Beziehungen treten, hat aber große Schwierigkeiten, Nähe zuzulassen und sich verletzlich zu zeigen.
Mehr zu den Risiken extremer Rolleneinnahme, den Chancen angemessener Rolleneinnahme, aber auch zu Unterstützungsansätzen und Potenzialen für die Familie erfahren Sie im Modul 2 der Fortbildungsreihe „Familien mit psychisch erkrankten Eltern“, die Katja Beeck für das Fortbildungsinstitut Pädalogik in Berlin anbietet.
Wenn Sie sich in die Belastungen und das Leid von Kindern einfühlen wollen, die die Rolle „Held“ in extremen Maße in ihrer Familie inne hatten und aufgrund ihres Reaktionsmusters als ungefährdet eingestuft wurden, sei die Broschüre „Ohne Netz und Boden“ empfohlen. >> Weiter zur Broschürenbestellung
5. Störungsspezifische Gefährdung von Kindern
Dann gibt es noch Auswirkungen durch eine psychische Erkrankung von Eltern, die eng an die einzelne psychische Erkrankung bzw. deren Symptome gekoppelt sind. Auf alle möglichen Folgen für Kinder kann an dieser Stelle nicht abschließend eingegangen werden.
Depressionen können bei Eltern beispielsweise damit einhergehen, dass sie weniger Blickkontakt mit ihrem Kind aufnehmen und halten, weniger oder kaum noch mit ihm sprechen und sich weniger mit ihm zusammen bewegen. Kompensiert diesen Ausfall kein anderer Erwachsener oder ist der erkrankte Elternteil die Hauptbezugsperson eines Babys oder Kleinkindes, können je nach Anhalten der Symptome Bindungsstörungen bei ihm entstehen oder seine Sprach- und Motorikentwicklung sich verzögern.
Geht mit einer schweren Depression ein Suizidversuch einher, überträgt der erkrankte Elternteil sein negatives Zukunftskonzept auf sein Kind, kann das zu einem erweiterten Suizid(versuch) führen. Dieser ist zwar selten, doch wäre der Tod sicher die schlimmste Auswirkung einer elterlichen Erkrankung auf ein Kind.
Ebenfalls eine Lebensgefährdung kann sich für ein sehr junges Kind ergeben, wenn Eltern aufgrund mangelnder Impulskontrolle im Rahmen ihrer psychischen Erkrankung ihr Baby schütteln. Auch im Rahmen von Psychosen kann es zu lebensgefährlichen Situationen für oder zum Tod von Kindern kommen so wie es 2005 in Darry passierte. Dabei muss der Tod nicht einmal beabsichtigt worden sein. Durch enthemmtes Verhalten in schweren manischen Zuständen kann eine Gefahr für ein Kind nicht gesehen werden oder wenn als optische Halluzination ein anderer Mensch als anwesend wahrgenommen wird, kann es zu unbeabsichtigter Lebensgefahr eines jüngeren Kindes kommen. Das ist sehr anschaulich im Film „A beautiful mind“ zu sehen, als der an Schizophrenie erkrankte Vater seinen Sohn badet und glaubt, dass noch jemand anderes auf sein Kind aufpasst. Dieser Mensch existierte aber gar nicht.
Eine Lebensgefährdung und der Tod als mögliche Auswirkung auf ein Kind durch eine psychische Erkrankung eines Elternteile ist wirklich nur eine absolute Ausnahme als Folge für Kinder ist. Die meisten psychischen Erkrankungen führen nicht dazu, dass an ihnen erkrankte Menschen eine Lebensgefahr für jemand anderen darstellen. Artikel mit gutem Überblick zu diesem Thema.
Ausblick: Anregung zur flächendeckenden Stärkung der Resilienz von Kindern in jeder Schule
Resilienz ist keine angeborene Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu überstehen, sondern wird erworben. Resilienz-Strategien zu erwerben ist für jedes Kind hilfreich und wichtig, um gut durchs Leben zu kommen. Manche Kinder können sie am Vorbild ihrer Eltern lernen, andere nicht. Besonders für Kinder, die – warum auch immer – diese nicht im Elternhaus am Vorbild lernen können und zusätzlich bereits als Kinder besonders belastet aufwachsen, ist es wichtig, dass es einen Ort gibt, wo sie Resilien-Strategien vermittelt bekommen und üben und Erwachsene erleben, die sie ermutigen. Welcher Ort würde sich dafür besser eigenen als die Schule?
Wenn Sie Lehrer*in, Schulsozialarbeiter*in oder Schulpsycholog*in sind, möchte ich Sie ermutigen, das mit den Ihnen anvertrauten Kindern zu üben. Wenn Sie Menschen dieser Berufe kennen, ermutigen Sie diese Menschen, diese Punkte (noch mehr) in ihren Unterricht einzubauen. Manchmal kann etwas Kleines etwas ganz Großes bewirken. Manchmal ist es nur ein Mensch, der ein ganzes Leben eines anderen positiv beeinflussen kann. So wie auch die Paten, die Kinder psychisch erkrankter Eltern in manchen Städten in Deutschland, zur Seite gestellt werden und durchs Leben begleiten.
Anders ausgedrückt mit den Worten des Dalai Lama
Und wenn du denkst, du bist zu klein, um etwas bewirken zu können, dann versuche einmal mit einem Moskito in einem geschlossenen Raum zu schlafen.