Wie tragen genetische Faktoren zur Entstehung der bipolaren Störung bei? Um mehr darüber herauszufinden, haben rund 320 Forschende rund um den Globus mehr als 40.000 Betroffene und 370.000 Kontrollen untersucht. Ihre Ergebnisse sind auch für Kinder sehr relevant, deren Elternteile an einer bipolaren Störung leiden und deren rechtzeitige Unterstützung, um deren Erkrankung vorzubeugen. Neben einer möglicherweise geerbten genetischen Veranlagung (60-85% Relevanz für Krankheitsausbruch) bestätigt die Studie, dass frühkindliche traumatische Erfahrungen wie Missbrauch oder der Verlust eines Elternteils sowie ein stressiger Lebensstil das Risiko eines Krankheitsausbruchs erhöhen. Daher gilt es Kinder betroffener Elternteile besonders gut im Blick zu behalten und eine derartige Belastung (auch durch deren erkrankte Eltern) von ihnen zu vermeiden. Außerdem sollten Kinder mit an einer bipolaren Störung erkrankten Elternteile als Jugendliche darauf aufmerksam gemacht werden, dass sie auf Rauchen, übermäßigen Alkoholkonsum und Drogenkonsum allein schon verzichten sollten, um einer eigenen Erkrankung vorbeugen. Diese Information ist wichtig und wird betroffene Kinder eher entlasten als belasten, da sie etwas aktiv machen (bzw. unterlassen können), um nicht selbst zu erkranken.
Pressemitteilung des Universitätsklinikums Bonn vom 17.05.2021:
Der Name „bipolare Störung“ kommt nicht von ungefähr: Bei den Betroffenen pendelt die Stimmung zwischen zwei Extremen. Mitunter sind sie wochenlang so niedergedrückt, dass sie es kaum schaffen, ihren täglichen Aktivitäten nachzugehen. Dann wieder gibt es Phasen, in denen sie sich euphorisiert und voller Energie fühlen und rastlos ihre Projekte verfolgen. In der Umgangssprache hat sich daher der Begriff „manische Depression“ eingebürgert. Rund ein Prozent aller Menschen erkranken im Laufe ihres Lebens. Der Leidensdruck, unter dem sie stehen, ist immens.
Risikofaktoren für eine bipolare Störung
Als Risikofaktoren gelten frühkindliche traumatische Erfahrungen wie Missbrauch oder der Verlust eines Elternteils, aber etwa auch ein stressiger Lebensstil oder der Konsum bestimmter Drogen. Zu einem überwiegenden Teil ist die bipolare Störung jedoch eine Frage der Gene: Auf 60 bis 85 Prozent schätzen Experten den Beitrag der Erbanlagen. Vermutlich sind Hunderte von Genen beteiligt. „Wir kennen davon bislang aber nur einen kleinen Teil“, erklärt Jun.-Prof. Dr. Andreas Forstner. Der Forscher, der kürzlich von der Universität Marburg auf eine Juniorprofessur am Institut für Humangenetik der Universität Bonn und am Institut für Neurowissenschaften und Medizin (INM-1) des Forschungszentrums Jülich gewechselt ist, ist einer der leitenden Autoren der aktuellen Studie.
DNA-Lexikon an Hunderttausenden von Stellen verglichen
Diese verbessert das Verständnis der genetischen Grundlagen erheblich. Das internationale Konsortium durchforstete dazu die DNA der mehr als 400.000 Teilnehmer nach Auffälligkeiten. Der genetische Bauplan jedes einzelnen Menschen gleicht einer Art riesigem Lexikon mit rund drei Milliarden Buchstaben. Der Inhalt dieses DNA-Lexikons unterscheidet sich von Person zu Person. Bei Menschen mit einer bipolaren Störung sollten sich aber zumindest die Passagen ähneln, die etwas mit der Erkrankung zu tun haben. Und diese Grundannahme machten sich die Wissenschaftler zunutze: Indem sie die DNA ihrer Probanden an vielen hunderttausend in der Bevölkerung variabel vorkommenden Stellen verglichen, konnten sie Erbgut-Regionen identifizieren, die vermutlich zu der Erkrankung beitragen.
„Wir haben auf diese Weise 64 Genorte gefunden, die mit der bipolaren Störung in Verbindung stehen“, erklärt Prof. Dr. Markus Nöthen, Leiter des Instituts für Humangenetik. „33 von ihnen waren bislang unbekannt.“ Damit liefern die Treffer auch Hinweise auf neue Therapieansätze. So enthalten die in den identifizierten Regionen gelegenen Gene oft Bauanleitungen für sogenannte Ionen-Kanäle. Diese sind für die Entstehung elektrischer Pulse im Gehirn wichtig, der Aktionspotenziale. Durch die Studie rücken insbesondere Kalziumkanäle in den Fokus der Forschung. „Sie scheinen an der Entstehung der Krankheit beteiligt zu sein“, erklärt Forstner. „Es gibt Medikamente, die die Funktion dieser Kanäle beeinflussen, aber bislang nur für die Behandlung anderer Krankheiten zugelassen sind. Vielleicht sind sie auch eine Option für die Therapie der bipolaren Störung.“
Rauchen ist ein möglicher Risikofaktor
Die genetischen Daten erlauben es zudem, besser zwischen verschiedenen Formen der Erkrankung zu differenzieren. Denn bipolare Störung ist nicht gleich bipolare Störung: Die Symptome und Verlaufsformen der Erkrankung können sehr unterschiedlich sein. „Wir rechnen damit, dass es bei der Krankheit verschiedene Subtypen gibt, die möglicherweise auch jeweils eine etwas andere Behandlung erfordern“, sagt Forstner. „Wir konnten zum Beispiel zeigen, dass eine häufig sehr schwer verlaufende Form der bipolaren Störung, Typ I genannt, auf genetischer Ebene stärker mit der Schizophrenie zusammenhängt. Eine etwas ,milder‘ verlaufende Variante – der Typ II – scheint dagegen eher mit der Depression verwandt zu sein.“
Die Wissenschaftler verglichen ihre Funde zudem mit den Ergebnissen von Studien, die nach den genetischen Grundlagen bestimmter Verhaltensweisen suchen. Dabei stießen sie auf interessante Zusammenhänge: So scheint Rauchen das Risiko für eine bipolare Störung signifikant zu erhöhen. Beim problematischen Alkoholkonsum legen die Analysen dagegen einen bidirektionalen Zusammenhang nahe: Menschen mit einer Veranlagung für eine bipolare Störung trinken öfter; umgekehrt scheint dieses Verhalten auch ihre Erkrankungs-Wahrscheinlichkeit zu erhöhen. „Wir raten aber bei der Interpretation dieser Befunde zur Vorsicht“, erklärt Forstner. „Die nachgewiesenen Zusammenhänge zwischen bestimmten Verhaltensweisen und der bipolaren Störung müssen zunächst noch in weiteren, großen Studien untersucht werden.“
Die Ergebnisse waren nur durch die Zusammenarbeit von rund 320 Forschenden in einem internationalen Konsortium (Psychiatric Genomics Consortium) möglich. Neben den Bonner Wissenschaftlern beteiligten sich als deutsch-schweizerischer Verbund unter anderem auch das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit Mannheim (Prof. Dr. Marcella Rietschel), das Klinikum der Universität München (LMU, Prof. Dr. Thomas G. Schulze) und das Universitätsspital Basel (Prof. Dr. Sven Cichon) an den Analysen. Prof. Nöthen ist an der Universität Bonn Mitglied im Transdisziplinären Forschungsbereich „Leben und Gesundheit“ sowie Mitglied im Exzellenzcluster ImmunoSensation².
Förderung
Die Studie wurde vom US-amerikanischen National Institute of Mental Health und dem National Institute of Health sowie zahlreichen weiteren Institutionen gefördert. In Deutschland flossen unter anderem Mittel der DFG, des BMBF sowie der Dr. Lisa Oehler-Stiftung in das Projekt.
Zum Artikel im Deutschen Ärzteblatt vom 17.05.2021, wo die Studie aufgegriffen wurde
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