Stationsäquivalente Behandlung (StäB) bei psychischen Erkrankungen – Interview mit Psychiater Deniz Karagülle

Deniz Karagülle

Deniz Karagülle ist in Nürnberg geboren und hat in Erlangen Medizin studiert. Seit 2023 ist er Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund in Dortmund. Vorher war er Chefarzt am Zentrum für Psychiatrie in Winnenden, wo er mit seinem Team die Stationsäquivalente Behandlung eingeführt hat.

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Sehr geehrter Herr Karagülle, über einen Blog-Post von Ihnen bin ich erstmals auf die Möglichkeit einer stationsäquivalente Behandlung aufmerksam geworden. Was genau ist darunter zu verstehen und seit wann gibt es diese Möglichkeit?

Die stationsäquivalente Behandlung (StäB) ist eine aufsuchende Behandlungsform, das heißt die Patienten müssen nicht in einem Krankenhaus stationär aufgenommen werden. Sie werden zuhause in ihrem natürlichen Umfeld behandelt. Die stationsäquivalente Behandlung ist im Gesetz definiert als eine der vollstationären Behandlung gleichwertige Behandlungsform. StäB entspricht somit in Inhalt, Flexibilität und Komplexität einer vollstationären Behandlung. Diese Möglichkeit gibt es in Deutschland erst seit 2018.

Warum wurde dieses Angebot eingeführt?

Es hat sich gezeigt, dass mit den klassischen stationären Angeboten nicht alle Patienten erreicht werden, da es Menschen gibt, die aufgrund von Verpflichtungen, z.B. Betreuung von Angehörigen, oder aus anderen Gründen nicht stationär in die Klinik kommen können. Um diese Patientengruppen besser erreichen zu können, wurde StäB eingeführt.

Wer bezahlt diese Behandlung und was ist die rechtliche Grundlage?

Die gesetzliche Grundlage dazu wurde mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Versorgung und der Vergütung psychiatrischer und psychosomatischer Leistungen (PsychVVG) geschaffen. Somit werden die Kosten für StäB wie auch bei stationären Behandlungen von den Krankenversicherungen übernommen.

Wer kann diese Behandlung unter welchen Voraussetzungen in Anspruch nehmen? Für wen ist sie geeignet?

Die Zielgruppe bilden schwer psychisch kranke Menschen, bei denen das Behandlungsziel nicht durch eine ambulante oder tagesklinische Behandlung erreicht werden kann. Lediglich Patienten, die hochgradig suizidal sind oder richterlich untergebracht sind, können nicht in StäB behandelt werden.

Das Angebot der stationsäquivalenten Behandlung ist nicht auf eine bestimmte Diagnosegruppe beschränkt, sondern steht grundsätzlich allen psychisch kranken Menschen mit einer stationären Behandlungsbedürftigkeit offen.

StäB bietet also nicht nur die Chance, Menschen mit einer psychischen Erkrankung die Behandlungsform anzubieten, die sie benötigen, sondern auch Kranke zu erreichen, die bislang eine stationäre Behandlung abgelehnt haben, z.B. aus krankheitsbedingten Gründen oder aufgrund von sozialen Verpflichtungen.

So wie alleinerziehende Eltern …

Genau. Zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die aufgrund einer Depression eigentlich in einem Krankenhaus behandelt werden müsste, die aufgrund fehlender Betreuung ihres Kindes aber eine stationäre Behandlung nicht in Anspruch nimmt. Im Rahmen der stationsäquivalenten Behandlung wäre eine der stationären Behandlung gleich zu setzende Therapie im häuslichen Umfeld möglich und somit könnte diese Patientin endlich eine Therapie in Anspruch nehmen, die sie auch bräuchte.

Welche Vor- und Nachteile hat diese Behandlung aus Ihrer Sicht für Patientinnen und Patienten?

Klare Vorteile sind unter anderem, dass Patienten aus ihrem natürlichen Lebensumfeld nicht herausgerissen werden, Behandlungserfolge leichter in den Alltag transferieren können und die häuslichen Themen für die Therapie leichter berücksichtigt werden können.

Nachteile wiederum können sein, dass belastende Situationen im häuslichen Umfeld nicht unterbrochen werden können. Eine solche Unterbrechung kann manchmal von Vorteil sein, z.B. bei ausgeprägten Partnerschaftskonflikten oder die Patienten, die durch Verpflichtungen sich überfordert fühlen, keine Pause erfahren, die sie im Rahmen von stationären Aufenthalten hätten.

Welche Vor- und Nachteile hat diese Behandlungsform aus Ihrer Sicht für Angehörige – insbesondere auch Kinder?

Bei StäB kommt es nicht zu Kontaktabbrüchen zwischen Patienten und Angehörigen wie bei stationären Behandlungen. Das kann manchmal von Vorteil sein, z.B. der Kontakt von Kindern zu den Eltern wird nicht über einen längeren Zeitraum unterbrochen. Aber wie schon erwähnt kann das manchmal auch nachteilig sein, z.B. bei massiven Konflikten, bei denen manchmal Abstand zueinander von Vorteil ist.

Einen Vorteil hätte StäB auch für Menschen, die Angehörige, z.B. pflegebedürftige Eltern versorgen müssen und daher eine dringend erforderliche stationäre psychiatrische Behandlung nicht in Anspruch nehmen können, da keine anderweitige Pflege organisiert werden kann oder manchmal die pflegebedürftigen Angehörigen diese ablehnen.

Welche Rolle spielen die Kinder des erkrankten Elternteils während der stationsäquivalenten Behandlung? Werden diese in irgendeiner Form auch unterstützt?

Leider sieht die aktuelle StäB-Struktur meines Wissens noch keine Versorgung von Angehörigen oder Kindern vor. Aber es wäre natürlich sehr sinnvoll, zukünftig Kooperationen mit Jugendämtern oder Kinder- und Jungendpsychiatrien zu prüfen, um bei Bedarf das StäB-Angebot so zu erweitern, dass auch die Kinder von psychisch kranken Menschen mit betreut werden können.

Welche Klinik bietet diese Betreuung an bzw. wie kann das jemand, der an ihr interessiert ist, herausfinden?

Die Zahl der Kliniken, die StäB anbieten steigt stetig an. Mir ist keine Website, bzw. keine Liste bekannt, die die Kliniken aufführt, die StäB anbieten. Da es sich aber um eine aufsuchende Behandlungsform handelt, kommen eher Kliniken in Frage, die sich in der Nähe des Wohnortes befinden. Daher empfehle die psychiatrischen Kliniken im Umkreis zu kontaktieren und sich zu erkundigen, ob diese StäB anbieten. Alternativ können natürlich auch die behandelnden Psychiater oder Hausärzte gefragt werden.

Warum wird diese Behandlungsform nicht flächendeckend angeboten?

Wie so oft braucht es bei neuen Behandlungsangeboten, die personal- und kostenaufwendig sind einige Jahre bis sich das Angebot ausbreitet. Am Anfang musste gezeigt werden, ob StäB wirklich umgesetzt und dauerhaft angeboten werden kann. Das haben bereits mehrere Kliniken mit Erfolg gezeigt, z.B. das Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg oder Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina. Jetzt befindet sich die StäB in einer „Ausbreitungsphase“ innerhalb der psychiatrischen Kliniklandschaft. Ich denke es wird noch fünf bis zehn Jahre dauern bis die meisten größeren psychiatrischen Kliniken StäB anbieten werden.

Welche Erfahrungen haben Sie bislang mit stationsäquivalenter Behandlung gemacht?

StäB wird bei uns im Knappschaftskrankenhaus Lütgendortmund aktuell noch nicht angeboten, aber wir prüfen die Etablierung. Ich habe StäB erstmalig in meiner Tätigkeit als Chefarzt beim Zentrum für Psychiatrie Winnenden am Standort Schwäbisch Gmünd mit meinem dortigen Team erfolgreich eingeführt. Unsere Erfahrungen waren von Anfang an sehr positiv. Der Bedarf an StäB war definitiv da.

Vielen Dank für die Zeit, die Sie sich für das Interview genommen haben. Ich drücke Ihnen fest die Daumen, dass Sie StäB auch in Ihrem neuen Klinikum eingeführt wird. Für die Kinder der Eltern, die Sie dann hoffentlich dort mitbehandeln, wünsche ich mir, dass Sie ein Netzwerk zur Jugendhilfe aufbauen können.

Weiterführende Informationen zur StäB

  • Studienergebnis 5/2024: Wenn psychiatrische Patient*innen zu Hause statt in der Klinik behandelt werden, sind sie und ihre Angehörigen zufriedener mit der Behandlung. Die zuhause behandelten Patient*innen werden wesentlich seltener in den nächsten zwölf Monaten stationär ins Krankenhaus aufgenommen und fühlen sich mehr an Entscheidungen beteiligt. Auch die Kosten der stationsäquivalenten Behandlung (StäB) sind insgesamt nicht höher als die Kosten einer stationären Behandlung.

Stand der Verbreitung von StäB in Deutschland (6/2023)

  • 60 StäB-Kliniken/Teams in Deutschland
  • verteilt auf 11 Bundesländer mit Verdichtung vor allem in Baden Württemberg, Hessen & Berlin
  • im Bereich Kinder- und Jugendpsychiatrie 8 StäB-Teams: Weissenau, Esslingen, Stuttgart, Weinsberg, Gießen, Lübben, Hamburg, Potsdam
  • Heterogene Strukturen hinsichtlich der Berücksichtigung von StäB in der Landeskrankenhausplanung der einzelnen Länder

Literatur & Links

Gerhard Längle, Svenja Raschmann: „Wann, wenn nicht jetzt und wer, wenn nicht wir?“ – Chancen der StäB erkennen – Hürden meistern, DKG – Tagung zur Stationsäquivalenten Behandlung, Berlin 25.08.2023

Deutsche Krankenhausgesellschaft: Stationsäquivalente psychiatrische Behandlung

Kliniken (Auszug), die bereits StäB anbieten

Zentrum für Psychiatrie Winnenden am Standort Schwäbisch Gmünd

Zentrum für Psychiatrie Südwürttemberg

Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Haina

Charité Berlin-Mitte

Vivantes Klinikum Berlin-Kaulsdorf

Vivantes Klinikum am Urban in Berlin-Kreuzberg

Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin

Jüdisches Krankenhaus Berlin

Klinikum Ernst von Bergmann in Potsdam

Immanuel Klinik Rüdersdorf

Asklepius Fachklinikum Göttingen

Helios Parkklinikum Leipzig

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