Es gibt mehr Möglichkeiten wie Menschen auf Stress reagieren als oft angenommen. Außerdem gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede.
Wichtige neuere Erkenntnisse zum Umgang mit Stress
Oft werden drei mögliche Reaktionen auf Bedrohung (=Stress) in der Literatur erwähnt: Kampf (fight), Flucht (flight) oder Einfrieren (freeze). Dabei werden zwei Punkte häufig außer Acht gelassen:
- Es gibt mit „Sich-kümmern-und-anschließen“ (Tend-and-befriend) bzw. „Beschwichtigung“ noch eine weitere Möglichkeit, auf Bedrohung zu reagieren.
- Die Geschlechter reagieren tendenziell unterschiedlich auf Bedrohung: Frauen/Mädchen deutlich mehr mit „Sich-kümmern-und-anschließen“ und Männer/Jungen eher mit „Kampf“ oder „Flucht“.
„Tend-and-befriend“ oder „Appeasement“ als weitere Reaktionsmöglichkeit – vor allem von Frauen
Das „Tend-and-befriend“ („Sich-Kümmern -und-Anschließen“) ist ein Verhaltensmerkmal von Menschen in Stress- und Bedrohungssituationen, bei dem diese versuchen sich zu schützen, indem sie sich einer Gruppe anschließen bzw. zusammen schließen und sich mit den Umständen arangiert. Die Gruppe, die höheren Schutz bietet. Diese Reaktion kommt häufiger bei Frauen/Mädchen als bei Männern/Jungen vor, die in vergleichbaren Situationen eher mit „Kampf“ oder „Flucht“ reagieren. Auch einige Männer haben allerdings soziales Annäherungsverhalten als unmittelbare Konsequenz auf Stress, wobei vor allem positiver sozialer Kontakt mit vertrauten Menschen deren Stressreaktion reduziert und dieser Kontakt daher aufgesucht wird.
Die geschlechtsspezifischen Hintergründe sind zumindest teilweise evolutionär und genetisch bedingt. Begründet wird das damit, dass es evolutionär für Schwangere und Mütter von Kleinkindern wenig sinnvoll war, mit Kampf oder Flucht auf Bedrohung zu reagieren, sondern „Sich-Kümmern -und-Anschließen“ erfolgsversprechender war. Gesellschaftliche Wertvorstellungen und Rollenbilder verstärken diese Verhaltensmuster zusätzlich.
Diese Erkenntnisse lassen die Reaktionen von Menschen, die sich an ihre Peiniger emotional binden in einem anderen Licht erscheinen. Daher wird vorgeschlagen, das Verhalten, das oft als „Stockholm-Syndrom“ bezeichnet wird, als „Beschwichtigung“ (Appeasement) zu bezeichnen.
Ausblick: Auch in der Stressprävention scheint es geschlechtsspezifische Unterschiede zu geben
Nicht nur in den Stressreaktionen, sondern auch in dem, was Stress abfedert, scheint es gravierende geschlechtsspezifische Unterschiede zu geben: So wurde beispielsweise 2022 untersucht, dass Umarmungen den Stresslevel von Frauen, nicht aber den von Männern senken. Als mögliche Erklärung für den geschlechtsspezifischen Unterschied wurde die unterschiedliche Oxytocin-Freisetzung genannt, das die Cortisol-Produktion hemmt.
Fazit/Impuls
Die Studien zeigen erneut, dass eine geschlechterspezifische Forschung und Medizin, die die Geschlechter berücksichtigt, wichtig und sinnvoll ist. Außerdem sollte „Beschwichtigung“ bzw. „Sich-kümmern-und-anschließen“ als mögliche die Stressreaktion mit aufgeführt werden.
Quellen/Studien
Taylor, S. E., & Master, S. L. (2011). Social responses to stress: The tend-and-befriend model. In R. J. Contrada & A. Baum (Eds.), The handbook of stress science: Biology, psychology, and health (pp. 101–109), online: https://psycnet.apa.org/record/2010-21826-008 [Abruf: 13.05.2024]
Taylor SE, Klein LC, Lewis BP, Gruenewald TL, Gurung RA, Updegraff JA. Biobehavioral responses to stress in females: tend-and-befriend, not fight-or-flight. Psychol Rev. 2000 Jul;107(3):411-29. doi: 10.1037/0033-295x.107.3.411
Stangl, W. (2024, 13. Mai). Tend-and-befriend-Reaktion. Online Lexikon für Psychologie & Pädagogik.
https://lexikon.stangl.eu/19305/tend-and-befriend-reaktion
Bailey, R., Dugard, J., Smith, S. F., & Porges, S. W. (2023). Appeasement: replacing Stockholm syndrome as a definition of a survival strategy. European Journal of Psychotraumatology, 14(1). https://doi.org/10.1080/20008066.2022.2161038
Berretz G, Cebula C, Wortelmann BM, Papadopoulou P, Wolf OT, Ocklenburg S, et al. (2022) Romantic partner embraces reduce cortisol release after acute stress induction in women but not in men. PLoS ONE 17(5): e0266887. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0266887