Neues Diagnosehandbuch ICD-11 am 1.1.2022 in Kraft getreten – gravierende Veränderungen insbesondere bei Diagnostik von Persönlichkeitsstörungen

Neues Diagnosehandbuch ICD-11 ist am 1.1.2022 in Kraft getreten. Danach gibt es nur noch die allgemeine Diagnose „Persönlichkeitsstörung“. Dazu Kriterien, die umschreiben sollen, wie viel Hilfe jemand braucht und wie schwer die Störung ist – leicht, mittel oder schwer. Das wird davon abhängig gemacht, in welchen Lebensbereichen sich die Störung zeigt: Hat jemand nur Probleme am Arbeitsplatz, weil er mit seinem Chef nicht klar kommt, oder hat er überall Probleme, in der Partnerschaft, mit seinen Kindern, mit Freunden, ist damit einfach sozial isoliert?
 
Die Borderline-Persönlichkeitsstörung scheint jedoch als Kategorie erhalten zu bleiben. Der Grund dafür ist, dass für sie wirksame evidenzbasierte Behandlungsansätze existieren. Und wenn die Diagnose wegfallen würde, würden von ihr betroffene Menschen vielleicht auch nicht mehr so zuverlässig zu diesen wirksamen Behandlungsansätzen zugewiesen werden.
 
Eine Diagnose nach dem ICD-11 zu erstellen wird länger dauern als bisher, darüber scheint Einigkeit zu bestehen. Schließlich wolle man den individuellen Fall differenzierter als bisher erfassen. Die Diagnosesteller brauchen sehr viel Erfahrung und vor allem gute Fragebögen. Die aber sind erst ansatzweise für das ICD-11 entwickelt.
 
Auf jeden Fall bleibt das Diagnosesystem beschreibend: Das Problem der psychiatrischen Diagnosen besteht darin, dass man bis heute zu wenig über die biologischen Ursachen der Erkrankungen weiß. Zwar gibt es große Anstrengungen, Hirnprozesse zu identifizieren, die bei Depressionen, Schizophrenien oder anderen Erkrankungen eine Rolle spielen. Aber diese sind häufig an verschiedenen Erkrankungen beteiligt.
 
Auch Andreas Heinz von der Berliner Charité würde am liebsten auf die Kategorie „Persönlichkeitsstörung“ ganz verzichten. Kategorien sind für ihn nur für schwere psychische Störungen sinnvoll, etwa für Demenz, Suchterkrankungen, schwere Psychosen oder Depressionen. Ansonsten sollten seiner Meinung nach Therapeuten und Patienten möglichst selbstständig aushandeln, welche Probleme zu behandeln. „Und wenn es den Kollegen hilft, das dimensional zu erfassen, warum nicht. Ich würde eher darauf verzichten, ich finde, wir Menschen sind zu komplex für drei bis fünf Dimensionen.“ Doch es gibt auch gegenteilige Bestrebungen, die sogar die Diagnosen erweitern wollen.
 
Hilfreich wäre, wir würden bei bestimmten psychiatrischen und vermutlich hirnorganischen Erkrankungen endlich die Ursachen und den genaueren Entstehungsmechanismus der Erkrankungen finden. Dann würden einige wie Schizophrenie, bipolare Störungen und bestimmte Formen von Depressionen sowieso nicht mehr als psychische Erkrankungen benannt werden.
Quellen und zur Vertiefung
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