Anlässlich der Messer-Attacke eines Mannes in Würzburg, bei der das Vorliegen einer akuten paranoiden Schizophrenie eine wichtige Rolle spielen könnte, ist die Gefährlichkeit, die von Menschen ausgeht, die unter Psychosen leiden, wieder in den Fokus gerückt. In der äußerst hörenswerten Podcast-Folge „Wann wird Schizophrenie gefährlich, Manfred Lütz?“ des Kölner Stadtanzeigers informiert der Psychiater Dr. Manfred Lütz, der sehr differenziert über die Diagnose Schizophrenie und die Problematiken informiert, die oft bei einer Behandlung von Menschen mit Psychosen bestehen. Manfred Lütz hat mehr als 20 Jahre lang die Psychiatrie des Alexianer-Krankenhauses in Porz geleitet und dort viele Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen behandelt, darunter auch an Schizophrenie Erkrankte. Er ist Autor des Bestseller-Buches „Neue Irre. Wir behandeln die Falschen“.
Dr. Manfred Lütz erläutert ab der 35. Minute vor allem das Problem, das durch das so genannte „Recht auf Krankheit“ entsteht, das eine rechtzeitige Einweisung und Behandlung von an Psychosen erkrankter Menschen verhindert. Erst bei „Selbst- oder Fremdgefährdung“ darf ein akut an einer Psychose leidender Mensch in ein Krankenhaus eingewiesen, aber noch nicht einmal dann automatisch behandelt werden – selbst wenn er krankheitsbedingt noch nicht einmal erkennen kann, dass er erkrankt ist. Manfred Lütz sieht es außerdem für ethisch äußerst problematisch an, wenn jemand dann doch zwangseingewiesen wird, ihn nicht behandeln zu können. Er fordert, dass über die Grenzen des Rechts auf Freiheit gesellschaftlich mehr diskutiert wird, was nicht bedeutet, dass er sich das Gegenteil wünscht, sondern einen Mittelweg, denn die Gefahren einer generell schnellen Zwangseinweisung hat Dr. Manfred Lütz ebenfalls im Blick. Schwierig sei, dass die aktuellen gesetzliche Regelungen (Psychisch-Kranken-Gesetze und die oberste Rechtsprechung) eine rechtzeitige Behandlung kaum noch ermöglichen. Auch Klaus Gauger, selbst von einer Schizophrenie betroffen war, macht in seinem Buch „Meine Schizophrenie“ auf die Problematik dieser gesetzlichen Regelungen aufmerksam. Marion Karausche (Pseudonym) – selbst Mutter eines Sohnes, der an Schizophrenie erkrankt ist – beschreibt in ihrem autobiografisch geprägten Buch „Der leere Platz“ ein Familiendrama, das diese Erkrankung mit sich bringt. Sie kritisiert nicht nur die psychiatrischen Behandlungsmethoden, sondern auch die rechtlichen Grundlagen. In einem Interview zu ihrem Buch sagt sie: „Wenn man von Dämonen im Kopf beherrscht wird, muss die grundgesetzlich garantierte persönliche Freiheit etwas anders definiert werden. (…) Aufgrund der hässlichen deutschen Vergangenheit ist dieses Thema aber sehr schwierig und belastet.“
Auch Manfred Lütz und die Moderatorin gehen auf die Situation der verzweifelten Angehörige ein, die oft vergeblich Hilfe bei Richtern oder Medizinern suchen. So wie der Günther Küblböck, der Vater des Ex-DSDS-Sängers Daniel Küblböck, der vor seinem Suizid im September 2018 starke Anzeichen einer Psychose zeigte, aber unbehandelt blieb, weil noch keine Selbst- oder Fremdgefährdung angenommen wurde. Auch Günther Küblböck sieht die rechtliche Regelungen als „unterlassene Hilfeleistung“ an den erkrankten Menschen an.
Diese problematischen gesetzliche Regelungen haben übrigens bereits 2007 in Darry bei der fünffachen Kindstötung durch eine Mutter, die an paranoider Schizophrenie litt, ebenfalls eine entscheidende Rolle gespielt. Damals hatte der Vater der Kinder vergeblich versucht, die Mutter, die an Wahnvorstellungen im Rahmen einer Psychose litt, zwangseinweisen zu lassen. Die Situation musste erst dramatisch eskalieren. Anschließend wurde die Mutter aufgrund ihrer Erkrankung für für schuldunfähig gesprochen und in Sicherheitsverwahrung gekommen. Ein Psychiater prognostizierte, dass sie in ein tiefes Loch fallen werde, sollte sie aufgrund einer Behandlung irgendwann erkennen könnte, was sie getan habe. An diesen beiden Beispielen wurde bereits deutlich, dass die aktuelle gesetzliche Regelung, die zum Schutz der erkrankten Menschen gedacht war, auch erhebliche Gefahren für diese selbst bedeuten kann.
Insgesamt sei noch einmal ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die meisten gewalttätigen Menschen nicht psychisch erkrankt sind und die meisten psychisch erkrankten Menschen auch nicht gewalttätig sind. Es ist das Problem, dass das wichtige Thema der gesetzlichen Bestimmungen zur Einweisung und Behandlung von Menschen, die an Psychosen leiden, eher von den Medien und der Öffentlichkeit aufgegriffen wird, wenn es zu Gewalttaten in Verbindung mit einer psychiatrischen Erkrankung kommt.
Doch im Fall von Darry wurde es kaum thematisiert. Nur in einem Interview mit einem Psychiater ging es um die Frage, ob der Sozialpsychiatrische Dienst eine Fremdgefährdung hätte erkennen können. Daher noch einmal herzlichen Dank an Dr. Manfred Lütz, dass er diese Problematik aus aktuellem Anlass thematisiert. Ich hoffe, dass sein Wunsch in Erfüllung geht, dass dieses Thema nunmehr aufgegriffen und breiter in der Gesellschaft in Deutschland diskutiert wird sowie anschließend eine gute Lösung zwischen den extremen Polen gefunden wird. Denkbar wäre beispielsweise, dass zumindest im Rahmen von Vorsorgedokumenten jeder Erwachsene für sich festlegen darf, ob er im Rahmen einer akuten Psychose vor einer Selbst- und Fremdgefährdung eingewiesen und behandelt werden möchte oder nicht, und er ggf. zusätzliche Vertrauenspersonen bestimmt, die einer Einweisung und Behandlung von ihm zustimmen müssen.
Artikel „Krankheit und Freiheit“ von Manfred Lütz in der FAZ vom 05.07.2021
Artikel „Mutter aus Darry tötete fünf Kinder im Wahn“ in der Welt vom 07.08.2008
Artikel „Urteil im Darry-Prozess: Mutter muss in Psychiatrie“ in der FAZ vom 14.08.2014
Prof. Wolfgang Meins: Die Krankheiten der Täter in Würzburg und Hanau vom 07.08.2021